Anmerkungen zum Coimbra Protokoll

Die Diskussion zum MS-Behandlungsansatz des brasilianischen Arztes Dr. Cicero Coimbra schlägt derzeit (Anfang 2017) in den einschlägigen Foren und zugehörigen Kommentaren hohe Wellen. Das Meinungsbild schwankt irgendwo zwischen Scharlatan, genialem Geist und Heilsbringer.
Grund genug, das Ganze auf den medizinischen Inhalt und die Hintergründe zu reduzieren, um damit die Chancen und Risiken besser einschätzen zu können.

Die Grundidee

Coimbra geht davon aus, dass bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen eine genetisch vererbte Resistenz gegen die Wirkung von Vitamin D vorliegt. Diese Resistenz (u. a. eine Vitamin D-Rezeptorstörung) gegen die immunmodulatorische Wirkung von Vitamin D ist eine teilweise Resistenz, keine vollständige. Aufgrund dieser Veranlagung besteht eine gesteigerte Wahrscheinlichkeit, eine Autoimmunerkrankung, wie die Multiple Sklerose, zu entwickeln.
Das Ausmaß dieser Resistenz wird im Rahmen des Behandlungsansatzes durch die Messung des Parathormons (PTH) bestimmt. Vitamin D senkt den Spiegel des Parathormons. Die Reaktion des Parathormonspiegels auf die Gabe von Vitamin D ist somit ein gutes Maß für die Messung der Vitamin D-Resistenz. Dementsprechend wird die für jeden Patienten spezifische Vitamin D-Dosis anhand der Reaktion des Parathormonspiegels festgelegt. Dabei kommen allerdings Tagesdosen zum Einsatz, die nach heutigem Verständnis toxisch sein können. Die oralen Dosen reichen von 30.000 bis zu 300.000 I.E. Vitamin D pro Tag.

Zur Historie hoher Vitamin D-Gaben

In der Haut werden täglich über intensive Sonneneinstrahlung bist du 25.000 I.E. Vitamin D produziert. Eine derartige Tagesdosis erscheint daher auch in Form einer Supplementierung noch als vertretbar.
Die Mengen an Vitamin D, die in der Haut hergestellt werden, sind somit viel niedriger als die Dosen von Vitamin D, die in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts bei der Behandlung von Asthma (60.000 bis 300.000 IE), rheumatoider Arthritis (200.000 bis 600.000 IE) und Tuberkulose verwendet wurden (100.000 bis 150.000 IE), die aber auch oft mit der Entwicklung einer Toxizität assoziiert waren. Es wurde festgestellt, dass viele Patienten begannen, eine klinisch signifikante Hyperkalzämie[1] nach längerer Verabreichung von Vitamin D in diesen hohen Dosen zu entwickeln, was letztlich zu mehreren Todesfällen führte.
Da praktische Methoden zur Messung der verschiedenen Formen von Vitamin D im Blut erst in den 1970er Jahren entwickelt wurden, wurden die Blutspiegel von Vitamin D, die mit dieser Toxizität assoziiert waren, in den 1930er und 1940er Jahren nie bestimmt.
Wegen dieser unerwünschten Nebenwirkungen fiel die Verwendung von Vitamin D für die Behandlung der oben genannten Krankheiten mit derart hohen Dosen aus dem Blickfeld der Medizin und wurde durch viel niedrigere Dosen im Bereich von 400 I.E./d ersetzt, von denen bekannt ist, dass sie keine Hyperkalzämie oder anderweitige Toxizität verursachen, die aber auf der anderen Seite auch nicht klinisch wirksam waren bei der Behandlung von Asthma, RA oder TB. Die einem Teelöffel Lebertran entsprechende geringe Vitamin D-Menge war allerdings sicher bei der Behandlung von Rachitis.
Mit den heute zur Verfügung stehenden medizinischen und labortechnischen Methoden erscheint aber die Wiederaufnahme der oben beschriebenen Ansätze längst überfällig. In diesem Sinne verdient Dr. Coimbra höchsten Respekt, sich dieses Themas angenommen zu haben.

Chancen und Risiken

Bei etwa 95 % der Patienten mit MS bleibt die Krankheit unter unserem Protokoll in dauerhafter Remission. Während die Patienten die hohe Dosis Vitamin D erhalten, bleibt die Krankheit inaktiv, ohne irgendwelche Anzeichen neuer Läsionen – weder klinische noch labortechnische.”, so Dr. Coimbra in einem Interview. Dieser Prozentsatz erscheint extrem hoch und zweifelhaft. Insofern ist es absolut wichtig, dass das Coimbra-Protokoll nach wissenschaftlichen Methoden weiter untersucht und validiert wird.

Viel wichtiger ist aber, dass Patienten jetzt auf keinen Fall anfangen, hohe Dosen Vitamin D oberhalb von 10.000 I.E. pro Tag auf eigene Faust und ohne medizinische und labortechnische Begleitung einzunehmen. Der Versuch kann fatal enden, da das eingesetzte Protokoll nicht nur die Dosierung von Vitamin D, sondern u. a. auch genau einzuhaltende Ernährungsvorschriften beinhaltet!
Betroffene, die mit dem Coimbra-Protokoll beginnen wollen, sollten sich also eine Ärztin oder einen Arzt suchen, die oder der sie intensiv und fachkundig begleitet.

Eine Liste mit von Coimbra geschulten Ärzten ist hier zu finden:
http://coimbraprotokoll.de/protokollaerzte/

Das Faktenblatt Vitamin D und MS kann hier heruntergeladen werden »


[1] Es tritt zunächst Übelkeit und Erbrechen, Durchfall oder Verstopfung auf. Schließlich kommt es zu Herzrhythmusstörungen, Antriebslosigkeit und allgemeiner Muskelschwäche. Bleibt der erhöhte Kalziumspiegel bestehen, kommt es zu übermäßigem Wasserlassen mit innerer Vertrocknung, zu Psychosen und schließlich zum Koma.

Version Life-SMS 5.5.2019, Referenzen siehe Faktenblatt