Auszug aus Sven Böttcher „Diagnose: unheilbar, Therapie: selbstbestimmt“ (Ludwig 2015)

Das menschliche Gehirn hat sich offenkundig unterschätzt.

(Norman Doidge)

Das Menschenhirn ist keine fest verdrahtete Maschine. Es beendet auch nicht mit 18 seine Lehre, steht danach immer an der gleichen Stelle am Fließband und beschränkt sich fortan auf die stumpfe Wiederholung des bis hierher Gelernten, wahlweise: „Ich denke, also bin ich“. Diese verbreitete mechanistische Ansicht ist (bewusste oder unbewusste) Folge von zu viel oder falsch verstandenem kartesianischen Denken und gerade in Sachen Hirnfunktion und -fähigkeiten längst überholt: Das Gehirn ist und bleibt dauerhaft lernfähig – und kann viel mehr, als wir glaub(t)en. Spätestens seit Norman Doidges tatsächlich revolutionärem Report Neustart im Kopf ist sonnenklar, dass das Hirn „plastisch“ ist, also formidabel formbar, und nicht stehen bleibt. Jedenfalls nicht stehen bleiben muss. Diese Neuroplastizität darf man inzwischen sogar erwähnen, ohne von lesefähigen Neurologen angeguckt zu werden wie irgendwas, das gerade aus ihrem Salat gekrabbelt ist. Die Unbelesenen gucken weiterhin so, also auf dem Stand von 1980. Aber die nennen ja MS auch unheilbar, ohne rot zu werden.

Nach meinem letzten desaströsen Schub Ende 2007 hatte ich zwar dank meines Ausstieges aus Kortison-Stoßrunden und Schulmedizin Anfang 2008 wieder funktionierende innere Organe, allerdings nicht meine Hände und Füße zurückerhalten. Während eines kurzen Reha-Aufenthaltes konnte ich gerade mal 100 Meter weit langsam stolpern und nach einer konzentrierten Verschnaufpause sogar wieder allein zurück ins Heim, aber meine Hände blieben weitgehend unnütz. Ergotherapeuten setzten mich zum Spielen vor eine Sandkiste und baten mich, die Augen zu schließen und eine sogar für Säuglinge simple Aufgabe zu lösen, nämlich große glattpolierte Steine aus dem Sandbett zu fummeln. Ich scheiterte auf ganzer Linie. (Und falls hier Nichtbetroffene mitlesen: Stellen Sie sich das einfach mal lebhaft vor. Dann wissen Sie, wie beängstigend und wie fürchterlich gewisse MS-Varianten sein können.)

Hätte ich abends irgendwo gezielt mitessen wollen, hätte man mir statt einer Gabel eine Mistforke neben den Teller legen müssen, deshalb verlegte ich mich ein paar Monate auf den Verzehr von dicken Brotscheiben oder kleckerte mit einem großen Löffel vor mich hin. Gefüttert zu werden lehnte ich ab, ich hatte und habe ja meinen Stolz (und eine Waschmaschine). Ernsthaft bedrohlich war der Verlust meiner Hände aber aus ganz individuellem Grund, denn ich lebe vom Schreiben. Was natürlich nicht mehr ging. Ich konnte weder einen Stift halten noch auf einer Tastatur tippen (außer man hätte mir eine Tastatur mit drei mal drei Zentimeter großen Tasten hingestellt, aber das hätte mich dann garantiert nach einer halben Seite Text zu Tode erschöpft, und erschöpft war ich sowieso rund um die Uhr.) Was blieb? Ein Diktierprogramm, genau. Das ich natürlich anschaffte und trainierte, indem ich meinem Rechner den ganzen Tag Wörter und Texte vorlas. Nur bin ich eben kein Anwalt oder Arzt, der immer gleiche Textbausteine in eine Maschine diktieren kann, sondern arbeite seit 25 Jahren völlig anders. Wenn ich schreibe, ist permanent alles in Bewegung, nicht nur in meinem Kopf, auch vor meinen Augen, auf dem Schirm. Ich ergänze, verschiebe, lösche, stelle um, ununterbrochen, mitten im Satz, quer durch den Text, quer durch die Kapitel. Also blieben mir zwei Wege: Entweder ich organisierte meinen gesamten zerebralen Schreibprozess um, buchstäblich von der Hand in den Mund – oder ich brachte meinen Händen das Schreiben und Tippen wieder bei. Beziehungsweise neu.

Ich begann bescheiden. Ich stellte mir vor, ich schriebe, denn der Gedanke geht der Tat doch häufig voraus. Ich versuchte, meine Finger an das zu erinnern, was sie einst problemlos, selbstverständlich und rasch gekonnt hatten. Parallel versuchte ich sie zu überraschen, mit sonderbaren Aufgaben, die sie nicht kannten. Ich legte meinem Hirn und meinen Fingern 1000 Puzzleteile hin, im Wissen, dass mein Gehirn Lösungen und Strukturen schätzt – und sich darüber ärgern würde, Lösungen glasklar vor seinem geistigen Auge zu sehen, aber nicht vor seinem echten Auge – weil meine Finger eben nicht auf mein Gehirn hörten. Ich provozierte mein eigenes Gehirn, stillschweigend, laut: „Verbindungen hin? Such neue!“

In diesen Herausforderungen, diesem Ärgern und zusätzlichen Überraschen sollte der Schlüssel zur Neuorganisation meines Gehirns und meiner neuronalen Pfade liegen – und zur Wiedererlangung meiner Fähigkeiten. Aber für die Überraschungen brauchte ich Hilfe von außen, denn nicht in jeder Hinsicht konnte ich mein Gehirn selbst auf den richtigen Pfad provozieren und zurücktricksen. Sich selbst zu kitzeln, das geht nämlich nicht. (Probieren Sie’s gern mal aus.)

Womit wir bei Feldenkrais wären, der eben kein falsch geschriebenes Waldorf-Händchenhalten im Dinkelfeld ist, sondern ein Nachname. Nämlich der von Moshé (1904–1984), der als studierter Physiker und Schwarzer-Gürtel-Judolehrer schon vor geraumer Zeit ein paar goldrichtige Ideen hatte, was die Zusammenhänge zwischen Körper und Geist (beziehungsweise Gehirn) betrifft. Daraus ist unter anderem die allzu technisch klingende „funktionale Integration“ entstanden, die so wunderbar funktioniert, dass sie natürlich von Krankenkassen bei MS nicht anerkannt, also auch nicht bezahlt wird (außer Sie finden einen Feldenkrais-Therapeuten, der nebenher auch Physiotherapeut ist und das Integrieren sozusagen in seinen Rechnungen verstecken kann. Andernfalls zahlen Sie die Behandlung selbst (50 bis 100 Euro pro Sitzung), wie so viele nützliche MS-Therapien. Die möglicherweise nicht ganz so nützlichen bezahlen die Kassen dafür aber klaglos mit bis zu bis 40.000 Euro pro Jahr (dazu ein paar Sätze mehr im P.S. dieses Kapitels).

Bei der funktionalen Integration geht es, platt gesagt, um das Zurückerobern der Bewegung an sich, was man durchaus als Zurückeroberung des Selbst übersetzen kann (denn ohne Hände, siehe oben, wäre ich nicht mehr ich selbst gewesen). Was der Feldenkrais-Behandler dabei mit seinem Patienten anstellt, sieht denkbar unspektakulär aus und hat mit grober Physio- oder Chiropraktik nichts zu tun. Beispielhaft beschrieben: Stellen Sie sich vor, Sie legen sich entspannt auf den Rücken und schließen die Augen und konzentrieren sich auf Ihren Körper – und jemand drückt Ihnen ganz leicht ein Brett unter die Fußsohlen. Spontan sagt man sich „Na und?“, aber interessanterweise sagt Ihr Gehirn dazu was ganz anderes, leicht Verwirrtes, nämlich: „Das ist falsch. Wenn der Körper rücklings flach am Boden liegt, kann es nicht gleichzeitig einen Boden unter den Füßen geben.“ Fängt Ihr Therapeut nun auch noch an, diesen simulierten Boden fast unmerklich zu bewegen, dreht Ihr Gehirn erst recht am Rad, denn bei Kontakt des ganzen Rückens mit dem festen Boden zusätzlich einen beweglichen Boden unter den Füßen zu spüren – das geht ja nun gar nicht. Das hat Ihr Gehirn komplett anders gelernt, so was ist seiner nach Ansicht physikalisch nicht möglich. Und doch muss es ja gerade (hinter geschlossenen Augen) einsehen (sic), dass es so was gibt.

Ihr Behandler kann diesen Überraschungseffekt nicht nur in der fast plumpen Bodenvariante herstellen, sondern auch für fast jede andere Bewegung. Und zwar nicht die großen, komplizierten Bewegungsmuster, sondern die kleinen, alltäglichen, selbstverständlichen. Vergegenwärtigen Sie sich hierzu, dass der Befehl Ihres Gehirns an die Spitze Ihres kleinen Fingers, sich bei nach vorn ausgestreckter Hand leicht zu krümmen, ein äußerst präzises Synapsenfeuerwerk erfordert – und eine äußerst exakte Abfolge allerkleinster Bewegungen von der Schulter bis zur Fingerspitze. Gibt Ihr Gehirn auch nur einer der beteiligten Nervenverbindungen, auch nur einer der beteiligten Sehnen, auch nur einem der beteiligten Muskeln, ein haarscharf falsches (zu starkes oder zu schwaches) Signal, bleibt nämlich Ihr Arm auf halber Höhe stehen, und statt der kleinen Fingerspitze winken Sie mit dem ganzen Handgelenk. Nachdem Ihr Körper diese schwierige, sehr präzise Abfolge von Kommandos von der Kindheit an per trial and error gelernt hat und anschließend die genauen Wegbeschreibung sozusagen unter „bekannt/erledigt“ im Archivkeller verstaut hat, wird darüber nicht mehr nachgedacht. Was ja auch gar nicht ginge. Denn es wäre für uns vollkommen unökonomisch, jeden Morgen neu darüber nachzudenken, wie man den Arm hebt oder geradeaus läuft. Genau das ist aber jetzt gefordert.

Wer – wie ein Schlaganfallpatient oder ein wirklich angeschlagener MS-Fall – eben jene als selbstverständlich gelernten Verbindungen verloren hat, weil an bestimmten Stellen auf dem Nervenkommandoweg Hindernisse in Form von vernarbtem, sklerotisierten Gewebe herumliegen oder gar Nerven einfach fehlen – erreicht auf dem erfolgreich gelernten Weg seine Ziele nicht mehr. Zum Beispiel, den kleinen Finger zu krümmen. Und wenn nicht jemand kommt und das Gehirn überrascht, bleibt es dabei: Die Verbindung ist tot. Die Fähigkeit verloren. Es geht nicht mehr.

Die Überraschung besteht nun – sei es durch den oben erwähnten unlogischen Boden oder durch eine von außen herbeigeführte „unlogische“, ganz dezente Andersgestaltung der Gesamtbewegung, die zur Fingerkrümmung führt – darin, dem Gehirn ungeheuer eindrucksvoll zu zeigen, dass es nicht nur den gelernten einen Weg gibt, das gewünschte Ziel zu erreichen, sondern alternativ auch noch einen oder mehrere andere Wege. Und das Gehirn, wenn auch zunächst widerwillig, muss überrascht konstatieren: stimmt. Auch auf diesem anderen, noch nie beschrittenen Nervenpfad lässt sich das Ziel tatsächlich problemlos erreichen. So bleibt Gehirn und folgsamem Körper am Ende gar nichts anderes übrig, als Bewegungszusammenhänge neu zu verstehen, mit einem verdutzten „Oh, so könnte ich das auch machen?“ Und dann machen Hirn und Körper genau das nach. Im Grunde verlangt also die funktionale Integration nichts anderes von Ihrem Hirn als das, was es auch macht, wenn Sie sich vorn neue Zähne machen lassen. Und so wie Menschen mit neuen Zähnen binnen Wochen aufhören zu lispeln und feucht zu sprechen, indem sie der Zunge allerkleinste neue Bewegungsmuster beibringen, kann Ihr Gehirn eben auch alle anderen Bewegungsabläufe leicht anders steuern. Vorausgesetzt, jemand zeigt ihm per Überraschung die alternativen Wege.

Wer nun mit einem streng auf harte Fakten verdrahteten Gehirn auf solch halbesoterisch klingende Erklärungen blickt, dem sei die ergänzende Bewertung der dazugehörigen Biochemie empfohlen. Denn bestimmte Bewegungsmuster erfordern das gleichzeitige Feuern spezieller Neuronen, wobei ein Protein freigesetzt wird, nämlich der brain-derived neurotrophic factor oder, unter guten Freunden, BDNF. Dieses Wachstumsprotein verstärkt die Verbindungen zwischen eben jenen feuernden Neuronen und vernetzt sie, so dass sie auch zukünftig verlässlich gemeinsam tätig werden, und nebenher befördert BDNF auch noch das Myelinwachstum, also die Regeneration eben jener Isolierschicht um die Nerven, die bei allen MS-Arten beschädigt wird. Um dies und die Verbindungsstärkung zu etablieren, muss allerdings der nucleus basalis permanent aktiviert sein – einer der wichtigsten, den Neurotransmitter Acetylcholin produzierenden Kerne des ZNS. Und dieser Kern ist aus Erfahrung verwöhnt, sprich: bleibt nur dann permanent auf Sendung, „wenn irgendetwas Wichtiges, Überraschendes oder Neues passiert – oder wir uns die Mühe machen, etwas unsere wirklich volle Aufmerksamkeit zuzuwenden.“ (1) Was unseren kleinen Kreis hoffentlich schließt, von den Lifestyle-Änderungen zum neu erlernten Bogenschießen oder Tai Chi, von der aufmerksamen und bewussten Gestaltung der Aufnahme von Lebensmitteln bis Feldenkrais.

Zu einer noch detaillierteren Erörterung der mit Moshé Feldenkrais’ guten Ideen so wunderbar korrespondieren biochemischen Muster im Menschenkörper ist hier garantiert weder Platz vorhanden noch ausreichende Fachkenntnis meinerseits. Belassen wir es also erfreut dabei, dass die Neurowissenschaft tatsächlich endlich auch auf einige binsenweise Trichter gekommen ist, lesen uns an Feldenkrais heran oder beschäftigen uns mit der wundersamen Genesung der Sonja Wierck, die ihre komplette MS-Lähmung stur nicht einsah und sich Kraft ihrer Gedanken sowie Feldenkrais-ähnlicher Vorgehensweise wieder erhob. Ihr zu Ehren heißt die entsprechende Therapie „SOWI(2) Aber sollten Sie dies oder jenes für eine nachvollziehbare Idee halten (und wieder besser funktionieren wollen), könnten Sie sich eigentlich auch gleich einen Fachmann in Ihrer Nähe suchen (3) und einen Termin gönnen (wenn Sie Ihre Kasse vorher ganz lieb fragen, zahlt die ja vielleicht sogar die erste Sitzung).

Ergänzend gestatten Sie mir aus persönlicher Erfahrung (sowie Neigung zum Kindischen): Kaufen Sie sich zusätzlich eine Nintendo Wii mit Balance Board und WiiFit. Nein, ich erhalte keine Zahlungen von Nintendo, leider. Und auch keine vom Media Markt. Sollten Sie das Board nicht kennen: Das befindet sich unter Ihren Füßen und ist bewegungssensitiv, so können Sie auf dem Bildschirm vor sich Dinge steuern. Zum Beispiel Kugeln auf einem Brett mit Löchern. Kinder finden das bedingt lustig, für angeschlagene MSler hingegen leistet es genau das, was wir auch oben als „neu, überraschend und unsere volle Aufmerksamkeit fordernd“ beschrieben haben. Überraschend ist daran vor allem, dass Sie nicht tatsächlich Kugeln bewegen, sondern Ihre Fuß-Auge-Koordination trainieren, und das mittels sehr feiner Gewichtsverlagerungen quer durch den ganzen Körper. Der Feldenkrais-Behandler ist hier also schlicht die Software, die Sie zu ganz neuen neuronalen Feuerwerken animiert – die Sie so noch nie erlebt haben. Das WiiFit-Programm ist zwar garantiert nichts für Epileptiker, wohl aber für Menschen, deren Gehirne interessant gereizt und aufgefordert werden wollen, neue Verbindungen herzustellen (schlichtere Balancekontrollen und die bei Bedarf hilfreiche Tagebuch-Funktion seien hier nur am Rande erwähnt). Meine Feldenkrais-Therapeutin kannte die Maschine nicht, woher auch? Fand sie aber komplett einleuchtend und behielt sie gleich da, als ich sie ihr zum Vorführen mitbrachte. Allerdings nur, um bei unserem nächsten Termin zu gestehen:

„Für Herrn Schröder wäre das allerdings zu viel. Aber Herr Schröder hatte ja auch gerade einen Schlaganfall. Für den müsste man was anderes programmieren.“
„Ja. Karottenputzen oder so was.“
„Genau. Können Sie sich da nicht mal einschalten?“
„Ich bin leider nur beim Fernsehen, wir haben’s nicht so mit aktiven Nutzern.“

Anfang 2008 war das alles noch improvisierter Blödsinn, aber heute (2014) ist es ja Gottlob angekommen bei den Programmierern. „Karottenputzen“ und „Bällesortieren“ gibt’s als Spiele (vermarktet zum Beispiel als Armeo Spring). Serious Games machen endlich Karriere, auf der Games for Health Konferenz in Boston 2013 prognostizierte Digital-Mill-Chef Ben Sawyer einen „explodierenden Markt“ binnen der nächsten zehn Jahre. Helfen wird’s. Und mit etwas Glück übernehmen in zehn Jahren sogar die Kassen die Kosten, wenigstens teilweise (weil sie kapieren, welche langfristigen Ersparnisse rehabilitierte Kranke bedeuten). Sofern die Kassen dann überhaupt noch Geld haben. Solange kann allerdings kein MS-Kranker warten, also bleibt im Ernstfall nur der Weg zum nächstgelegenen Feldenkrais-Therapeuten oder der Weg in den nächstgelegenen Elektrofachhöker, zum Selbsthilferegel: eine Wii, das entsprechende Spiel und ein Balance Board gibt’s schon für circa 300 Euro.

Und wir halten abschließend optimistisch als gesichert fest: Wenn unser Gehirn auf den eingefahrenen Wegen nicht mehr vorankommt, sorgen wir für Überraschungen; zeigen wir ihm neue Wege. Im Hirn ist unendlich viel Platz. Und solange nicht entscheidende Verbindungen im Rückenmark komplett durchtrennt oder zugewuchert sind, haben wir alle Chancen dieser Erde, wieder zu ganzen Fähigkeiten zurückzufinden.

P.S.: Vorsicht, Falle! Denn bei der Behandlungsoption Feldenkrais-Therapie gilt ausdrücklich „Heilung auf eigene Kosten – Gesundheit auf eigene Gefahr!“ Als ich mich damals (berufsunfähig, mit fast gelähmten Händen) entschloss, diesen Versuch zu unternehmen, beschied mir meine (private) Krankenversicherung, es lägen keine Studien vor, dass Feldenkrais bei MS „wirkt“, daher werde man die Therapiekosten nicht übernehmen. Mein Hinweis, ich würde immerhin keine 15.000 bis 40.000 Euro jährlicher Kosten für Basistherapie verursachen, stimmte die Kasse nicht gnädiger, also musste ich die Behandlung selbst bezahlen. 25 Sitzungen später konnte ich wieder schreiben, also arbeiten (und meiner Versicherung so die Zahlung weiterer Krankentagegelder ersparen) und suchte meinen vormals zuständigen Neurologen auf, zur Bestandsaufnahme. Er freute sich aufrichtig, mich zu sehen, mit den Worten „Schön, dass Sie hier auf Ihren eigenen Beinen reinkommen!“ Als ich meinen Vespa-Helm auf seinen zweiten Besucherstuhl ablegte und sagte: „Ich bin sogar selbst gefahren, und mein Rollstuhl hat 125 Kubik und nur zwei Räder“, war er fast noch ein bisschen erfreuter, auch wenn sein Lächeln dezent verrutschte, weil er sich mit seiner kategorischen Empfehlung geirrt hatte, die „Eskalationstherapie“ sei meine letzte und einzige Hoffnung, wenigstens stabil auf EDSS 5,5 zu bleiben. Immerhin attestierte er mir nach der Untersuchung einen EDSS „zwischen 1 und 2“ (siehe Nachwort wegen meines sechs weitere Jahre später ermittelten heutigen (2014) EDSS 0 bis 1). Nach dem erfreulichen Termin bei ihm wurde ich nochmals schriftlich bei meiner Kasse vorstellig und bat wegen des Behandlungserfolgs um Erstattung der von mir verauslagten etwa 2000 Euro. Die Kasse übergab den Fall daraufhin einem unabhängigen Gutachter, der konstatierte: Da die Feldenkrais-Therapie nicht gegen MS-Beschwerden helfe, die Behandlung mir allerdings eindeutig geholfen habe … (na? Sie ahnen es? …), hätte ich eben keine MS. Und somit weder Ansprüche auf Erstattung der verauslagten Kosten – sowie keine zukünftigen Ansprüche mehr auf MS-Behandlung, gleich welche. Auch nicht auf, falls je gewünscht, teure Medikamente.

So hatte ich mich also durch meine Wiederherstellung in Eigenregie (und auf eigene Kosten) aller zukünftigen Ansprüche gegen meine Versicherung beraubt.
Der oben erwähnte sehr sanfte, freundliche Professor fand daraufhin verblüffend wüste Worte, auch schriftlich. Er war mit der ferndiagnostisch festgestellten Wunderheilung nicht einverstanden, sondern gestattete sich den Hinweis, meine bis 2007 rabiat verlaufene MS sei klinisch gesichert, von diversen Seiten, meine Verbesserung dank der gewählten Therapie dennoch höchst erfreulich, und drängte die Kasse energisch zur Erstattung der Behandlungskosten.
Die Kasse blieb bei ihrer Weigerung. Räumte aber nach einigem Hin und Her (inklusive einiger Klagedrohungen meinerseits) immerhin ein, dass die Patienteninitiative zur Verbesserung des eigenen Zustandes keinen ausreichenden Grund darstelle, alle zukünftigen Zahlungen kategorisch zu verweigern.
Und geschildert habe ich Ihnen das nur für den Fall, dass Sie selbst irgendwas wirklich Sinnvolles für sich tun wollen. Sofern das nämlich klappt, sagen Sie’s nicht weiter. Bezahlen Sie Ihren Feldenkrais-Therapeuten oder Ihr Rennrad aus eigener Kasse und schweigen Sie, wenn’s hilft.


(1) Doidge: The Brain that Changes Itself, S. 80: “When we perform an activity that requires specific neurons to fire together, they release (das Protein) BDNF (brain-derived neurotrophic factor). This growth factor consolidates the connections between those neurons and helps to wire them together so they fire together reliably in the future. BDNF also promotes the growth of the thin fatty coat around every neuron that speeds up the transmission of electrical signals (…) Henceforth the nucleus can be activated ONLY when something important, SURPRISING or NOVEL occurs, or if we make the effort to pay close attention.
(2) Perlmutter, a.a.O., S. 132: „The gene that turns on BDNF is activated by a variety of lifestyle habits, including physical exercise, caloric restriction, following a ketogenic diet, and the addition of certain nutrients like curcumin and the omega-3 fat DHA.”
(3) http://www.feldenkrais.de