• Die Kortisontherapie ist zur Zeit die einzige Therapie des akuten Schubes, deren relative Wirksamkeit durch größere wissenschaftliche Studien nachgewiesen scheint. Allerdings gibt es keine Studien, die ohne Zweifel die Wirksamkeit von Kortison zur Therapie des akuten Schubes der MS beweisen.
  • Die Kortisontherapie führt bei einem von vier Behandelten zu einem schnelleren Abklingen des Schubes. Es ist aber davon auszugehen, dass das Ausmaß der Beeinträchtigungen beim nicht mit Kortison behandelten Patienten nach einigen Monaten dasselbe sein wird wie nach einer Kortisontherapie
  • Es gibt keine Belege dafür, dass die intravenöse Gabe von Kortison eine bessere Wirkung hat als die Gabe von Kortison in Tablettenform
  • Die Kortisontherapie führt wahrscheinlich nicht zu einer Verhinderung oder einer Verzögerung neuer Schübe.
  • Leichte Nebenwirkungen treten bei der hochdosierten kurzzeitigen Kortisontherapie in über 50 % der Fälle auf. Schwere Nebenwirkungen treten bei 1% der Fälle auf.
  • Vor Beginn der Kortisontherapie müssen Infektionen (durch Viren oder Bakterien) zwingend erkannt und behandelt werden.

Bei den schubförmig verlaufenden MS-Varianten ist die Behandlung schwerer Schübe mit per Infusion oder in Tablettenform verabreichtem hochdosiertem Kortison medizinisch angezeigt und unter Neurologen praktisch unumstritten. Auch die einzige maßgebliche Metastudie der Cochrane Collaboration (Nov. 2013) kommt (trotz nur moderater Evidenz) zu dieser  Schlussfolgerung (1), obwohl sich an der Faktenlage seit 2006 nichts geändert hat. Diese Lage beschreiben renommierte MS-Spezialisten zusammenfassend so:

„Die Frage, ob die Kortisontherapie zu einer geringeren Beeinträchtigung nach Ende des Schubes führt, kann wegen fehlender Studiendaten nicht beantwortet werden (…) Die Kortisontherapie führt bei einem von vier Behandelten zu einem schnelleren Abklingen des Schubes. Die Wirksamkeit innerhalb von 5 Wochen ist dabei möglicherweise später nicht mehr nachweisbar“, somit „hat einer von vier Behandelten (25 von 100) einen gewissen Nutzen von der Therapie mit Kortison zu erwarten.“ ( Schulungsbroschüre zur Schubtherapie der Multiplen Sklerose der MS-Sprechstunde des UKE, Hamburg)

MS-Patienten werden in der Regel nicht mit solchen Fakten behelligt. Wir bitten daher um Nachsicht, sollten wir durch die Verbreitung von Fachwissen für Unruhe sorgen, und versichern, dass wir das nicht zum Spaß machen.

Wirkungen, Nebenwirkungen und Dauer
Verwendet wird bei der Intervention im akuten schweren Schub synthetisch hergestelltes Methylprednisolon, das etwa viermal stärker ist als das vom Körper selbst in der Nebennierenrinde hergestellte Hydrokortisol. Zu den zahlreichen (und durchaus verwirrenden) Aspekten des Kortisons gehört, dass es zwar ein Stresshormon ist, allerdings gleichzeitig die Immunabwehr bremst, was bei einer aktiven Autoimmunerkrankung eine gute Idee zu sein scheint (sofern MS eine Autoimmunerkrankung ist). Unstrittig ist, dass Kortison das um einen Entzündungsherd entstehende Umgebungsödem (hier: Wasseransammlungen im Gehirn oder Rückenmark) abschwellen lässt und daher zu einer umgehenden Linderung der hiermit assoziierten Beschwerden führt. Eine beschleunigte Rückbildung der akuten Symptome ist in einem Viertel der Fälle zu beobachten, der positive Effekt ist für den Patienten eindeutig spürbar. Bei kurzzeitigem Einsatz (drei bis fünf Tage) erscheinen die Nebenwirkungen von Gewichtszunahme (häufig), Euphorie und Schlaflosigkeit während der Therapie, danach depressive Stimmung und Burnout-Gefühl (häufig) bis Bauchspeichdrüsenentzündung (sehr selten) tolerierbar. Bei den meisten Fachleuten und Neurologen liest sich das allerdings, als wäre eine Hochdosistherapie ungefähr so nebenwirkungsarm wie ein Glas Quellwasser, aber diese Einschätzung kann wohl nur teilen, wer das Zeug nie genommen hat. Siehe hierzu – dringend – die bereits oben erwähnte  Schulungsbroschüre des UKE (S. 19). Hinsichtlich der Dosis herrscht weiterhin kein vollständiger Konsens, die Empfehlungen reichen derzeit von 500 mg bis 2000 mg pro Tag intravenös über drei bis fünf Tage (während man früher zweimal 50 mg oral für angemessen und zielführend hielt). Die Hochdosistherapie sollte nicht öfter als dreimal pro Jahr angewandt werden.

Oral oder intravenös?
Obwohl sich jüngeren Studien zufolge bei der Behandlung der meisten entzündlichen Erkrankungen mit Methylprednisolon keine Wirkungsunterschiede im Vergleich intravenös vs. oral zeigen, verwenden die meisten Neurologen Kortison gegen MS weiterhin ausschließlich intravenös. Vernünftige (lies: wissenschaftlich haltbare) Motive hierfür sind nicht ersichtlich (jedenfalls nicht für uns, die wir gern evidenzbasiert arbeiten). Empfiehlt man Ihnen also die intravenöse Gabe, fragen Sie Ihren behandelnden Arzt nach seinen Gründen und sprechen Sie ihn auf die seit Jahrzehnten vorliegende und bis heute unwiderlegte aussagekräftigste diesbezügliche Studie an – siehe unten. Die Interpretation der Studienleiter ist unseres Wissens bis heute zulässig: „Da sich in unserer Studie kein ersichtlicher Vorteil der intravenösen Verabreichung zeigt, erscheint uns die Empfehlung angezeigt, im akuten MS-Schub die orale Anwendung von Kortikoiden der intravenösen Verabreichung vorzuziehen – aufgrund der höheren Zweckmäßigkeit für den Patienten, der Sicherheit und aus Kostengründen“. (1)
Da Ihr Neurologe ein guter Neurologe ist, wird er die Studie natürlich kennen und trotzdem gut nachvollziehbare Gründe haben, Ihnen eine Venenkanüle in den Arm stecken zu wollen. Kann er Ihnen für diesen Vorschlag keine Gründe nennen, sollten Sie einen Neurologenwechsel in Erwägung ziehen.

Kortison im „leichten Schub“
Ergänzend sei erwähnt, dass man in Internet-Patienten-Foren häufiger auf vergleichsweise fröhliche MS-Patienten trifft, die bei jedem Schubanzeichen zur „Korti-Tanke fahren“ (deren Worte). Es scheint also Menschen zu geben, die auch diese hohen Dosen ganz problemlos wegstecken und nach der Drei-Tage-Behandlung praktisch schubkuriert wieder aufstehen. Sofern Sie zu diesen Patienten gehören, haben Sie Glück. Sie sollten aber trotzdem nicht öfter als dreimal im Jahr tanken fahren. Denn die Empfehlung von oben relativierend gilt es zu bedenken, dass dieser medizinische Konsens auf der präzisen Formulierung „schwere Schübe“ fußt. Sprich: Ihr Körper braucht nicht zwingend bei jedem leisen Anzeichen von „Entzündungsaktivität“ eine Kortisondosis, mit der man eine Elefantenherde behandeln könnte. Gerade leichte Schübe heilen oft auch ohne Kortisongabe wieder ab, allerdings dauert es ohne Kortison gegebenenfalls ein paar Tage länger. Da indes niemand weiß, ob MS tatsächlich eine Autoimmunerkrankung ist oder ob zuerst der Schaden (am Axon bzw. Myelin) entsteht und erst danach die Schwellung, könnte es im Einzelfall unter Umständen sogar falsch sein, diesen Heilungsprozess des Körpers mittels Kortison abzukürzen oder zu unterbinden. Anders gesagt: Es ist unklar (weil nicht untersucht), ob nicht die Kortisongabe die Abheilung der Entzündungsherde beeinträchtigt. Zumindest ist die Vermutung zulässig, dass ohne Intervention die Abheilung bei mildem Entzündungsgeschehen besser und mit weniger vernarbtem Gewebe gelingen könnte. Bei nur leichten Schüben müssen daher Sie selbst entscheiden (so schwer das ist), ob Sie sofort zu Kortison greifen oder Ihrem Körper die Zeit und Ruhe geben, das Problem selbst zu lösen.

Einschränkung (für die 1 Prozent Ausnahmefälle)
Zuletzt: Die Hochdosis-Kortison-Empfehlung (und alle Studien) gelten nur für gesicherte (sowie schubförmig verlaufende) MS-Fälle, bei denen die Anamnese vollständig korrekt vorgenommen worden ist und andere Ursachen für die auftretenden neuronalen Störungen ausgeschlossen worden sind. Davon sollte man zwar ausgehen können, leider ist es aber nicht immer und überall der Fall. Und es gibt durchaus Krankheiten, die ähnliche temporäre Symptome auslösen wie eine sich zum ersten Mal manifestierende MS, bei denen indes Kortison kontraindiziert ist, vor allem bei aktiven Infektionen durch Viren, Pilzinfektionen, Bakterien wie Salmonellen und zum Beispiel Borreliose. Derartige virale oder bakterielle Einflüsse sind vor der Kortisongabe zweifelsfrei auszuschließen, andernfalls schaden Sie sich gegebenenfalls massiv – wie, ist im Folgenden beispielhaft und quasi anekdotisch von einem echten Schulmediziner (nicht Neurologen) zusammengefasst. So was wollen Sie zwei schlimme Jahre nach Ihrer Diagnose garantiert nicht lesen. Jedenfalls nicht über sich selbst (Hervorhebung durch den Patienten SB):

„Es erstaunt den unvoreingenommen differenzialdiagnostisch abwägenden Mediziner, wie es kommt, dass sich in diesem Falle keine aktenkundige differenzialdiagnostische Abwägung anderer Ursachen als der einer autoimmunologischen für eine Multiple-Sklerose-Erkrankung typischen Enzephalomyelitis disseminata findet. Und angesichts dessen und im Hinblick auf den eher Irritation statt Diagnosesicherheit auslösenden Kernspin- und Neurologiebefund von Prof. Dr. X wäre es angezeigt gewesen, die Differenzialdiagnose neu zu eröffnen. Lege artis hätte dabei nicht nur eine Tuberkulose ausgeschlossen werden müssen, sondern auch andere infekttoxische Ursachemöglichkeiten des radiologischen Herdbefundes Th 11. Schon die naheliegende Zoster-Virus -Serologie ist nicht abgenommen worden und auch die Epstein-Barr-Viren-Serologie muss schlicht als dürftig und unzulänglich bezeichnet werden. Immerhin ist bei einem solchen Krankheitsbild mit Verschlimmerung zu rechnen, wenn es sich um eine infektiöse statt eine autoimmunologische Ursache handelt, wenn man bei dieser Symptomatik Kortison verabreicht.“

Kurz und sicherheitshalber, als vorsichtige Richtschnur zu diesem Teilaspekt: Jene MS-Betroffenen, die nicht unmittelbar oder wenigstens binnen ein bis zwei Tagen von der Hochdosis-Kortisontherapie profitieren (was sich durch eine merkliche Verbesserung der Beschwerden äußert) oder die sich gar unter der Therapie immer schlechter fühlen, sollten dringend auf eine gründliche Ausschlussdiagnostik drängen (auch wenn das Ihrem Neurologen gegebenenfalls auf die Nerven geht. Das muss er aushalten, denn seine Nerven sind ja heil, im Gegensatz zu unseren.


(1) Barnes et. al., Randomised trial of oral and intravenous methylprednisolone in acute relapses of multiple sclerosis, The Lancet, V 349, I 9056, p 902-906, März 1997): „Since our study did not show any clear advantage of the intravenous regime we conclude that it is preferable to prescribe oral rather than intravenous steroids for acute relapses in MS for reasons of patient convenience, safety, and cost.“

© lsms/Sven Böttcher/Ludwig Verlag, München 2014