Die Forderung mancher Paleo-Diät-und-MS-Experten, vollständig auf Backwaren, gar auf Brot zu verzichten, ist auf tief unterbewusster Ebene unerhört, denn es berührt unsere kollektive kulturelle Prämisse. Es handelt ja förmlich gotteslästerlich, wer da sagt: Vergesst „Unser täglich Brot gib uns heute“! Brot ist gestrichen! Wer sich allerdings bewusst macht, welchen unterbewussten Affront diese Aufforderung darstellt, und daraufhin den Abwehrreflex überwindet, kann sich mit den Feinheiten beschäftigen und versuchsweise klarmachen, dass das alttestamentliche Brot mit unserem Brot wenig zu tun hat. Ob nun tatsächlich die ausdauernd besungene Gluten-Allergie an praktisch allen Hirnerkrankungen schuld ist (nicht nur an MS) oder ob’s die Weizenkeimagglutine (WGA) sind1), lässt sich zwar schwerlich abschließend beurteilen, Fakt ist allerdings, dass die MS-Häufigkeit in Regionen, wo viel Weizen verzehrt wird, auffällig hoch ist.

Tatsächlich könnte Gluten dabei „der“ Faktor sein, der MS (mit) auslöst oder befördert – jedenfalls bei einer nachgewiesenen Allergie oder in Verbindung mit einer sicher diagnostizierten Zöliakie. Andererseits weisen neuere Studien mit echtem, nicht denaturiertem Mehl (dazu kommen wir gleich) in darmgesunden Körpern darauf hin, dass Gluten bei geeigneter Verarbeitung und Zubereitung von den meisten Menschenkörpern sehr wohl toleriert wird. Ignorieren wir also den Streit der Gluten-Gelehrten versus Backwarenfanatiker und erproben die These am einzelnen Versuchskaninchen, also uns selbst: indem wir unser täglich gekauftes Brot sowie Fertigbackwaren einfach mal vier Wochen komplett aus dem Speiseplan streichen und uns selbst beobachten.

Wer sich nach diesem Selbstversuch besser fühlt, müsste streng genommen wissenschaftlichen Mut aufbringen und sich dem verdächtigen Brotstoff wieder aussetzen, um sicherzustellen, dass tatsächlich ein Zusammenhang besteht. Wer keine weiteren Selbstversuche unternehmen will, verzichte entweder auch zukünftig ganz auf Getreideprodukte und verlege sich auf Reis, Smoothies und Nüsse – oder nutze die mildere zweite Versuchsanordnung, diesmal mit selbst Gebackenem.

Handelsübliches Brot (aus Weiß- und Graumehl) wird aus Mehl gebacken, das im besten Fall mehrere Wochen alt ist (lecker) und aus entkeimtem Getreide gewonnen wurde. Der Getreidekeim enthält nämlich neben viel Vitamin B1 (wichtig für die Weiterverarbeitung von Glukose in den Zellen, also gut für die Nerven) auch reichlich Fett, deshalb wird echtes Vollkornmehl sehr schnell ranzig. Das ist für die Backindustrie natürlich nicht akzeptabel, deshalb werden Keim und Spelzen vor dem Vermahlen entfernt, je nach Entfernungsgrad von der Natur sinkt die Typennummer des Mehls bis zum praktisch komplett denaturierten „Typ 405“. Sofern Sie jetzt denken „Kein Problem – ich verwende ja Vollkornmehl aus dem Reformhaus“, denken Sie noch mal kurz drüber nach … (und werfen Sie einen Blick auf das Haltbarkeitsdatum).

Der Ausweg ist ebenso simpel wie schmackhaft: Selbst backen. Viele Reformhäuser verfügen über Getreidemühlen und mahlen dort gekauftes Bio-Getreide, alternativ können Sie sich eine eigene Mühle kaufen (ab circa 100 Euro). Sowie einen Backautomaten, der Brot nicht im Schnellverfahren herstellt, sondern so, wie’s gemeint war, früher: Das dauert dann stundenlang, weil der Teig immer wieder gehen muss, aber Sie können ja in der Zeit auch gehen, nämlich spazieren.

© SB/lsms/Ludwig Verlag, München 2015, 04/2015


1) Vgl. Karl Probsts Zusammenfassung von Wolfgang Lutz‘ 1967 erschienenem „Standardwerk“ Leben ohne Brot