Behandlungs-Ansätze der Multiplen Sklerose aus der Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin

Die meisten MS-Patienten sind hochsensible Menschen. Das TCM-Interview mit Frau Dr. med. Gunda Schlink

Das Wissen über die 2000 Jahre alte TCM füllt ganze Bücherregale. Die Themen reichen vom Prinzip des „Yin & Yang“, der Lehre von Körpermeridianen, Akupunkturpunkten und Bewegungstherapien über die fünf Funktionskreise – denen Organe, Jahreszeiten, Emotionen zugeordnet sind – bis hin zur „Ernährungslehre nach den 5 Elementen“. Die für MS-Patientinnen und –Patienten wichtigen Fragen beantwortet TCM-Ärztin Dr. Gunda Schlink aber in diesem Interview.

Frau Dr. Schlink, die TCM gilt landläufig als sanfte Methode. Stimmt das?

Nicht unbedingt. Die TCM ist eine sehr potente Methode und versteht sich als ganzheitliches System, mit dem sich viele Erkrankungen schlüssig erklären und wirkungsvoll behandeln lassen – manchmal erfolgreicher als mit der Schulmedizin. In den falschen Händen kann die TCM aber auch viel Schaden anrichten.

Wie erklärt die TCM die Erkrankung Multiple Sklerose?

Eine häufige Krankheitsursache aus der Sicht der TCM sind Infekte in der Vorgeschichte oder schwelende Infekte, die nie so richtig herauskommen, wie etwa dauernde Beschwerden in den Nasen-Nebenhöhlen oder leichte Halsschmerzen. Dieses akute Geschehen spielt sich auf der sogenannten „oberflächlichen Körperschicht“ ab. Gelingt es dem Organismus jedoch nicht, eine Entzündung vollständig auszukurieren, sinkt sie in die Tiefe ab. Die tiefste Körperschicht entspricht dem Funktionskreis der Niere, der verantwortlich ist für die Blase, aber ebenso für Gehirn und Rückenmark. Wenn in diesen Funktionskreis als krankmachende Faktoren „Kälte“, „Wind“ oder „Schleim“ eindringen, schadet das den Vitalkräften Ying und Yang, ihre Verbindung lockert sich. Dies führt zu den typischen MS-Symptomen: schlechteren Nerven- und Organfunktionen, Sensibilitätsstörungen, Spastik, weniger Beweglichkeit, aber auch zu Angst und Depression. Es ist ein langer therapeutischer Weg nötig, um die Yin-Yang-Verbindung wieder neu herzustellen und zu festigen.

Stichwort Infekte. Viele MS-Patienten beobachten, dass schwere Erkältungen oder grippale Infekte MS-Symptome verschlimmern bzw. erst so richtig anheizen…

Ja, hier kann man den Zusammenhang zwischen Lunge und Niere beobachten, wie ihn die TCM sieht. Wird der frische Infekt, der sich im Funktionskreis der Lunge abspielt, nicht richtig bearbeitet, sinkt er in den Nierenkreis ab. Bei verschleppten Infekten ist das Ziel der TCM-Behandlung, dass sie endlich richtig herauskommen. Das nennen wir „Reaktualisierung“. An der Oberfläche kann man sie etwa mit chinesischen Kräuterrezepturen gut behandeln. Je länger die Altlasten das System beeinträchtigt haben, desto länger die Therapiedauer. Wichtig dabei ist die enge Zusammenarbeit zwischen Therapeut/in und Patient/in, zu der Geduld und klare Rückmeldungen gehören.

Mit welchen Methoden diagnostiziert und behandelt die TCM?

Am Beginn steht ein umfassendes ganzheitliches Anamnesegespräch. Gefragt wird nach Beschwerden, Infekten – aktuell und in der in der Kindheit -, Schlaf, Temperaturempfinden, Stuhl, Menstruation etc. Dann lasse ich mir die Zunge zeigen und fühle den Puls. Diese Art der Diagnostik ist aus TCM-Sicht sehr aussagekräftig.
Zu den Säulen der Behandlung zählen Akupunktur, Phytotherapie, also Kräuter, spezielle Ernährungs-Empfehlungen und Bewegungstherapien, wie Taiji Chuan oder Qi Gong. „Qi“ ist dabei ein zentraler Begriff: Darunter verstehen wir unsere universelle Lebenskraft oder Energie, die frei fließt, wenn wir gesund sind. Ist das Qi blockiert, erkranken wir. Umgekehrt behindern Verletzungen oder Krankheiten ihrerseits die freie Zirkulation der Energie. Störungen des Qi-Flusses oder Schmerzen lassen sich wirkungsvoll durch Akupunktur oder Qi-Gong beeinflussen. Störungen der sogenannten „Säfte“, wie Blut, Feuchtigkeit, Schleim etc., reagieren besser auf Ernährungstherapie oder individuell zusammen gestellte Kräutermischungen.

MS gilt als Krankheit der 1000 Gesichter. Wie nähert sich die TCM diesen unterschiedlichen Krankheitsbildern an?

Gerade bei Multipler Sklerose ist es wichtig, genau nachzufragen, welche Beschwerden im Vordergrund stehen. Behandelt wird je nach Ursache individuell. Für Spastik ist oft „Kälte“ verantwortlich, nicht im herkömmlichen, sondern im TCM-Sinn. Hier gilt es, den Qi-Fluss anzuregen, um eine generelle Durchwärmung des Körpers zu erreichen. Das verbessert im Idealfall das Fühlen, die Beweglichkeit und die Spastik. Eins der Hauptprobleme bei MS ist der erwähnte Schleimüberschuss, der über den Darm abgeleitet werden soll. Bei brennenden Nerven-Schmerzen kann der Grund aber auch eine sogenannte „Bluthitze“ sein, die entsprechender Kühlung bedarf. Jeder Patient ist in seinem Krankheitsbild einzigartig.

Gibt es auch Gemeinsamkeiten?

Die meisten Patienten mit MS sind seelisch und körperlich hochsensibel. Sie nehmen Emotionen intensiv wahr und haben eventuell Probleme mit dem Thema Abgrenzung. Nach meiner Erfahrung reagieren Menschen mit MS oder anderen Autoimmunerkrankungen besonders stark auf chinesische Kräuter. Daher dosiere ich bei MS sehr vorsichtig. Oft komme ich mit einem Drittel oder noch weniger der in klassischen chinesischen Originalrezepturen verwendeten Menge aus. Auch Akupunktur ist aus meiner Sicht bei MS einmal pro Woche ausreichend; mitunter genügt ein einziger Termin alle vier Wochen. Als Betroffener kann man selbst einiges zur Genesung beitragen: Qi Gong, auch die stille Form, zeigt erstaunliche Wirkungen gegen Taubheitsgefühle und kann die Beweglichkeit steigern. Viele meiner Patienten erzählen, dass sie mit längerer Übungsdauer lernen, den Fluss des Qi regelrecht zu spüren. Um Yin und Yang wieder in Balance zu bringen, sollten MS-Patienten darüber hinaus auf ausreichende Ruhephasen achten.

Wie Hippokrates sieht die TCM Nahrungsmittel als mögliche Heilmittel. Bei Durchsicht der von Ihnen zusammen gestellten Ernährungs- Empfehlungen (siehe Liste Nr. 1) fällt auf, dass sich diese fast eins zu eins mit den aktuellen Empfehlungen von lsms.info decken. Stichworte: gesunde Öle, das Meiden von Zucker und von Kuhmilch-Produkten. Warum ist Milch aus TCM-Sicht so negativ bewertet?

Kuhmilch trägt zur Schleimbildung bei und hat eine abkühlende Wirkung, was die Funktionskreise der der Milz, die zur sogenannten „Mitte“ zählt, und der Nieren, die ja fürs Nervensystem zuständig sind, schwächt. Gerade bei MS sollte man besser auf Mandel- oder Getreidemilch ausweichen. Milchprodukte aus Ziegen- oder Schafmilch wärmen hingegen und dürfen gelegentlich konsumiert werden. Bei MS ist es wichtig, das Nieren-Qi und die Mitte durch wärmende Lebensmittel zu stärken (siehe Liste Nr.2). Denn wenn es der Mitte gut geht, sind unsere Selbstheilungskräfte stark. Zuviel Rohkost und kalte Getränke können schaden. Brot ist nach Einschätzung der TCM übrigens so etwas wie das „erste Fastfood“. Weit gesünder und generell empfohlen: Ein warmer Frühstücksbrei aus Getreide, der verhilft energetisch zu einem guten Start in den Tag.

Frau Dr. Schlink, Sie waren als Anästhesistin ursprünglich reine Schulmedizinerin. Sehen Sie in Hinblick auf MS Parallelen zwischen Schulmedizin und TCM?

In der TCM sind dem „Funktionskreis Lunge“ das Immunsystem und als ableitendes Organ der Darm zugeordnet. Ein aktuelles Thema in der schulmedizinischen Forschung ist das Mikrobiom, also die Besiedelung des Darms mit nützlichen Bakterienstämmen und deren vielfältige Konsequenzen für den gesamten Organismus. Nicht nur bei neurologischen Erkrankungen wie MS, Parkinson oder Alzheimer dürfte die Zusammensetzung des Mikrobioms eine Rolle spielen. Sowohl in der westlichen als auch in der traditionell chinesischen Medizin ist die Bedeutung des Wechselspiels zwischen Darm und Immunsystem anerkannt. Ein weiteres Beispiel ist die Akupunktur. Ihre – zumindest – schmerzlindernden Effekte ließen sich in klinischen Studien objektiv nachweisen. Grundsätzlich schließen sich Schulmedizin und TCM keineswegs aus, ich sehe sie als komplementäre Verfahren, die sich ergänzen.

Gilt das auch für die Therapie? Lässt sich die TCM mit modernen MS-Medikamenten, wie z.B. Interferon oder auch monoklonalen Antikörpern, kombinieren?

Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Akupunktur lässt sich problemlos kombinieren. Mit chinesischen Kräutern wäre ich dagegen extrem vorsichtig. Moderne Medikamente arbeiten durchwegs am Immunsystem. Wird nun Kräutertherapie gleichzeitig eingesetzt, riskiert man im schlimmsten Fall unkontrollierbare Wechselwirkungen; ich rate generell von solchen Kombinationen ab. Zu mir kommen aber immer wieder mal Patienten, die ihre vom Neurologen verordneten MS-Medikamente wegen zu belastender Nebenwirkungen abgesetzt haben und auf der Suche nach Alternativen sind. Hier könnte man nach einer gewissen Pause eine Kräutertherapie in Erwägung ziehen.

Für einen Termin bei Ihnen muss man derzeit mit sechs Monaten Wartezeit rechnen. Wie finden MS-Patienten die geeignete TCM-Ärztin oder den geeigneten TCM-Therapeuten?

Nicht jeder chinesische Arzt ist automatisch auch ein TCM-Arzt. Kenntnisse und Fertigkeiten in TCM erwirbt man nur durch eine gründliche Ausbildung und laufende Fortbildungen, idealerweise als Mitglied einer Fachgesellschaft. (Adressen siehe Liste anbei.)

Woran erkenne ich, dass ich bei meinem TCM-Therapeuten in guten Händen bin?

Grundsätzlich sollte er oder sie Ihnen genug Zeit geben, und Sie spüren echtes Interesse. Beim Erheben Ihrer Krankengeschichte kommt folgendes zu Sprache: Ihre schulmedizinischen Vorbefunde und Laborergebnisse – speziell vor Beginn einer Kräutertherapie -, Vorerkrankungen sowie Art und Dosierung der eingenommenen Medikamente. Vielleicht ließe sich ja probeweise die Dosis reduzieren? Im Lauf der Behandlung wird wiederholt nachgefragt, wie Sie sich fühlen und auf die Behandlung reagieren. Dabei fühlen Sie angenommen und verstanden, nicht zuletzt auch sprachlich. Bei der Akupunktur und anderen Körperbehandlungen sollte es genügend Platz geben und eine bequeme Liege vorhanden sein. Eine warme Decke oder Wärmelampen verhindern, dass Sie frieren müssen. Trotz bester Bedingungen und Therapie nach allen Regeln der Kunst – in manchen Situationen kann die TCM an ihre Grenzen stoßen. Hier wird ein verantwortungsbewusster Therapeut rasch eine weitere schulmedizinische Abklärung und Therapie veranlassen.

Abschließend: Könnten Sie uns einen Fall schildern, bei dem sich der Gesundheitszustand einer Patientin oder eines Patienten mit MS im Lauf der TCM-Behandlung wesentlich verbesserte?

Spontan fällt mir ein 40jähriger Mann ein, der vor ca. zwei Jahren die MS-Diagnose erhielt. Extrem belastend für ihn waren schwere Erschöpfungszustände, also Fatigue, und Konzentrationsstörungen. Akupunktur war bei der speziellen Symptomatik meines Patienten kein Mittel der Wahl. Aus Sicht der TCM litt er unter massivem Überschuss von Schleim und Feuchtigkeit, die wir ausleiten konnten. Mittels verschiedener Kräutermischungen und gezielter Ernährung versuchten wir, zunächst seine „Mitte“ und später den Funktionskreis der Nieren zu stärken. Über einen Zeitraum von etwa neun Monaten ging es mit ihm zwar langsam, aber kontinuierlich bergauf; heute fühlt er sich wesentlich wacher und konzentrierter. Er kann seinen anspruchsvollen Beruf – beinahe ohne Einschränkungen – wieder ausüben. Und er hat genug Energie und jede Menge Spaß daran, sich mit seinen Kindern zu beschäftigen.


Dr. Gunda Schlink ist Fachärztin für Anästhesiologie, mit den Zusatzbezeichnungen Akupunktur und Naturheilverfahren. Als Anästhesistin arbeitete sie ambulant und im Krankenhaus, bevor sie sich 1999 der Traditionellen Chinesischen Medizin und anderen komplementär-medizinischen Methoden zuwandte. Heute ist sie u.a. Mitglied der DÄGfA – Deutsche Ärzte-Gesellschaft für Akupunktur, der DECA – Dokumentation von Erfahrungsmaterial der Chinesische Arzneitherapie, der GfBK – Gesellschaft für Biologische Krebstherapie und des ZAEN – Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren. Sie arbeitet in einer Privatpraxis für Akupunktur, Naturheilverfahren und TCM in Meerbusch (Nähe Düsseldorf). Einer ihrer Schwerpunkte ist seit Jahren die Behandlung von Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose.

Interview: Felicitas Dorne im November 2017

  • Das TCM-Interview mit Frau Dr. med. Gunda Schlink
  • Ernährungsempfehlungen aus Sicht der TCM
  • Übersicht zu Lebensmitteln und ihrer Zuordnung zu den Funktionskreisen der TCM
  • Vortragsfolien “TCM – Ein ganzheitlicher Weg: Welche Ansätze bei der MS-Behandlung gibt es aus Sicht der Traditionellen Chinesischen Medizin?” vom 9.9.2017

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